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Die Glocken der Martinskirche

Jörg Adrian (2022)

„Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ lautet die Inschrift auf der ältesten erhaltenen Glocke der Niersteiner Martinskirche. Sie ist zugleich die kleinste und hängt, auf „b“ gestimmt, als vorderste im Glockenstuhl. Der Vers nimmt Bezug auf ein frühes Kirchenlied Martin Luthers, um die Jahreswende 1523/24 geschrieben als Nachdichtung auf Psalm 130, einen Bußpsalm: EG 299. Gedacht als ein exemplarisches Psalmlied, in dem Luther das biblische Bußgebet in Zusammenhang bringt mit der paulinischen Rechtfertigungslehre und beide miteinander vertieft.

Es geht in diesem Psalm um existenzielle Not. Der Psalmbeter fordert nachdrücklich Gottes Aufmerksamkeit: „Herr, höre meine Stimme! Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens!“ (Ps. 130,2). Er will gehört werden. Und er übt sich in Geduld, weil er weiß, was er erwarten darf: „Ich harre des Herrn, / meine Seele harret, und ich hoffe auf sein Wort. / Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen“ (Ps 130,5-6), „denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm“ (Ps. 130,7). Das Wissen um die Gnade bietet Luther die Verbindung mit Paulus.

Diese Glocke war allerdings nicht die erste in der Martinskirche. Bereits 1712 war eine Glocke von Georg Christoph Roth, einem Glockengießer in Mainz, angefertigt worden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen dann noch zwei weitere Glocken hinzu: Zunächst folgte 1862 eine kleinere Glocke mit einem Außenumfang von 70 cm. 1886 erging dann der Auftrag für eine große Glocke mit einem Außenumfang von 105 cm an die renommierte Glockengießerei Andreas Hamm in Frankenthal, die 1874 mit dem Guss der „Kaiserglocke“ für den Kölner Dom – der seinerzeit drittgrößten Glocke der Welt – auf sich aufmerksam gemacht hatte. Alle drei Niersteiner Glocken wurden 1917 als Metallspende eingezogen und für die Rüstungsproduktion eingeschmolzen.

Nach Kriegsende erging bereits am 27. Juli 1919 der Auftrag zum Guss neuer Bronzeglocken an die Glockengießerei Andreas Hamm und Sohn in Frankenthal. Zur Finanzierung wurden unter anderem mithilfe von geistlichen Konzerten Spenden gesammelt. Zur gleichen Zeit verzögerten sich die Vorbereitungen des Glockengusses mehrfach, bis im März 1920 dem Glockenguss nichts mehr im Wege stand. Schon am 7. Juli 1920 bekam die Martinskirche wieder ein neues Geläut. Drei neue Glocken wurden nach Nierstein gebracht und in einem feierlichen Umzug – drei pferdebespannte Fuhrwerke, begleitet von Reitern und zahlreichen Ehrenformationen – vom Rhein über den Fronhof zur Kirche gebracht.

Die größte Glocke wog 20 Zentner und klang erneut in dem Ton „es“. „Ein’ feste Burg ist unser Gott“ lautete ihre Inschrift. Auch dieser Choral lehnt sich an einen Psalm an – Psalm 46: „Gott ist unsere Zuversicht und unsere Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben“ –, auch er ist von Luther, der ihn 1529 schrieb und damit so etwas wie die Hymne des Protestantismus schuf.

Die mittlere Glocke im Ton „g“ trug das Bibelwort „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid“ aus Matthäus 11,28. „Ich will euch erquicken!“, lautet Jesu daran anschließende Zusage, „nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.“

Die Inschriften dieses neuen Geläutes sprechen für sich und zeugen von der Stimmung unmittelbar nach dem verlorenen Krieg, der nicht nur eine Niederlage bedeutete, sondern auch eine Demütigung angesichts der hochfliegenden Vorstellungen von 1914. Sie schlagen einen Bogen vom Klageruf unter Existenzangst („Aus tiefer Not schrei ich zu dir“) über die trostreiche Aufforderung („Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid“) bis zur Gewissheit, in schwerer Zeit Schutz und Kraft finden zu können („Ein feste Burg ist unser Gott“).

Erstmals 1928 finden sich in den Akten der Kirchengemeinde Überlegungen zu einem elektrischen Läutewerk als Ersatz für die bis in das Erdgeschoss des Turmes herabhängenden Glockenseile. Doch erst im Zuge einer umfangreicheren Instandsetzung der Kirche 1954/55, bei der auch etliche Kriegsschäden behoben werden sollten, konnte tatsächlich ein elektrisches Läutewerk eingerichtet werden. Im selben Jahr wurde der alte hölzerne durch einen neuen schmiedeeisernen Glockenstuhl ersetzt.

Erneut beschlagnahmt und einem weiteren Krieg geopfert werden mussten die große und die mittlere Glocke während des Zweiten Weltkriegs. Auf einem Meldebogen wurden am 22. Mai 1940 drei Glocken erfasst: die erste mit etwa 860 kg und 125 cm Außenumfang, eine weitere mit ca. 600 kg und 100 cm, die dritte mit rund 400 kg und 85 cm. Am 23. Februar 1942 bestätigte die „Reichsstelle für Metalle“ die Beschlagnahmung von zwei Glocken mit einem Gesamtgewicht von 1495 kg. Lediglich die kleine Glocke blieb verschont und klingt so bis zum heutigen Tag.

Nicht lange nach Kriegsende begannen die Bemühungen um eine Ergänzung des dezimierten Geläutes. Die Mittel für die teure Wiederbeschaffung mussten mühsam beschafft werden, zumal Glockensachverständige bei der Kirche auf Bronzeguss drängten. 1946 begann eine Haussammlung für die Glocken, im Herbst 1948 folgte eine Mostsammlung für Glocken und Heizung. Wiederum wurde die Gießerei Andreas Hamm & Sohn in Frankenthal beauftragt. Am 11. November 1949 konnten zwei neue Glocken aufgezogen werden, die seither das Geläut der Martinskirche ergänzen – allerdings tragen sie gänzlich andere Inschriften als ihre Vorgängerinnen.

Die große, in der Mitte hängende Glocke ist auf „es“ gestimmt und trägt das Pauluswort „Einen anderen Grund kann niemand legen, außer dem der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus“ aus dem Ersten Korintherbrief (1. Kor. 3,11). Paulus legt im dritten Kapitel des Briefes unter anderem sein Verständnis von Mitarbeit am Reich Gottes dar, demzufolge viele mit unterschiedlichen Gaben und Aufgaben versehen ihren Beitrag leisten, nicht ohne seinen Anteil in gebührender Demut zu vermerken: „Denn wir sind Gottes Mitarbeiter; ihr seid Gottes Ackerfeld und Gottes Bau. Ich nach Gottes Gnade, die mir gegeben ist, habe den Grund gelegt als ein weiser Baumeister; ein anderer baut darauf. Ein jeder aber sehe zu, wie er darauf baut“ (1. Kor. 3,9-10). Vor allem betont Paulus, worauf es beim Bauen entscheidend ankomme: Ganz gleich, ob aus Gold und Silber, aus Holz oder Stroh gebaut werde, vom Fundament hänge alles weitere ab.  

Die mittelgroße, nun hinten hängende Glocke ist auf den Ton „g“ gestimmt und zitiert wiederum einen Psalm: „Lobe den Herren meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“. Psalm 103 ist in der Lutherbibel überschrieben als „Das Hohelied der Barmherzigkeit Gottes“ und beginnt mit einem ausführlichen Lobpreis: „Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen! / Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat: / der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen, / der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit, / der deinen Mund fröhlich macht und du wieder jung wirst wie ein Adler“ (Ps. 103,1-5).

Der Psalm wird David zugeschrieben, der darin – aus eigener reichhaltiger Erfahrung – Gottes fürsorgliches Wirken besingt und darauf das Lob Gottes begründet, der nicht ferne ist und bleibt, sondern den Menschen nahe kommt, die ihrerseits seine Nähe suchen. Der Psalmbeter vergewissert sich seines Gottes und der wertvollen Segnungen, die er erfahren hat und die in der Vergebung allen Unrechtes und aller Schuld gipfeln: „Gnädig und barmherzig ist der Herr, geduldig und von großer Güte. / Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unsrer Missetat. / Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, lässt er seine Gnade walten über denen, die ihn fürchten. / So fern der Morgen ist vom Abend, lässt er unsere Übertretungen von uns sein. / Wie sich ein Vater über seine Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über uns“ (Ps. 103, 8.10-13).

Es finden sich keine Aufzeichnungen, wer aus welchen Gründen die Verwendung dieser Texte veranlasst hat oder ob es darum inhaltliche Diskussionen gab. Es bleibt jedenfalls eine bemerkenswerte Wahl: Beide Glockeninschriften gehen mit der Erfahrung von Untergang und Neuanfang anders um als noch 1920. Sie zeugen von der bitteren Erkenntnis, einem verbrecherischen Staat gedient zu haben, den falschesten aller denkbaren Führer in ihren Vernichtungswahn gefolgt – und noch einmal davongekommen – zu sein.

„Freude hat mir Gott gegeben! / Sehet! wie ein goldner Stern / Aus der Hülse, blank und eben, / Schält sich der metallne Kern.“ Mit diesen Worten lässt Friedrich Schiller im „Lied von der Glocke“ dieselbe aus ihrer Form hervortreten, nachdem er den Glockenguss, seine Vorbereitung und Ausführung, in zahlreichen Versen begleitet und dabei immer wieder auch die unterschiedlichsten Verwendungszwecke der frisch gegossenen Glocke thematisiert hat: Zu den Lebensstationen Taufe, Hochzeit und Begräbnis solle sie ebenso läuten wie bei drohenden Gefahren wie Feuer und Sturm und nicht zuletzt jeden Tag zu einem friedlichen Feierabend. „Freude dieser Stadt bedeute, / Friede sei ihr erst Geläute“ lauten dann auch die Schlussverse der Ballade.

Damit ist Schiller nicht sehr weit entfernt von der Läuteordnung unserer Kirchengemeinde. Zwar werden die Gefahrensignale längst von anderen Institutionen übernommen, doch alles andere findet sich mühelos wieder. Dabei mag das Geläut den einen stören, für den anderen gehört es ganz selbstverständlich zum Tagesablauf dazu – und nicht zuletzt spiegelt sich im Glockenläuten der Lauf des Tages und eines ganzen Lebens wider.

Natürlich läuten die Glocken der Martinskirche sonntags zum Gottesdienst: Eine Stunde vor Gottesdienstbeginn klingt beim Erstläuten zunächst nur die kleine Glocke, eine halbe Stunde später beim Zweitläuten ist sie zusammen mit der mittleren zu hören, in den letzten zehn Minuten rufen schließlich alle drei Glocken zum Gottesdienst.

Während des Gottesdienstes kommt nur die mittlere Glocke zum Einsatz und läutet regelmäßig zum Vaterunser, darüber hinaus aber auch zu den Taufhandlungen und zum Abendmahl. Ebenso begleitet sie im Konfirmationsgottesdienst die Einsegnung und am Toten- bzw. Ewigkeitssonntag die Verlesung der Verstorbenen.

Bei Trauungen ertönt ein Zusammenläuten aller drei Glocken 10 Minuten vor Beginn und ebenso 10 Minuten nach Ende des Gottesdienstes, während des Trausegens läutet allein die mittlere Glocke. Sie ist, so gesehen, die meistbeschäftigte der Glocken. Denn auch zu Beerdigungen läutet sie am Morgen um 7.00 Uhr drei Minuten lang, bevor dann später am Tag das Zusammenläuten aller drei Glocken den Beginn der entsprechenden Trauerfeier ankündigt. Während des Trauerzuges bis zum Grab ist dann wiederum nur die mittlere Glocke zu hören. Seit einem Aufruf der Kirchenleitung 1956 läuten die Glocken auch eigens am erst wieder eingerichteten Volkstrauertag.

Umso außergewöhnlicher ist dann das Zusammenläuten aller drei Glocken für jeweils eine Viertelstunde am Karfreitag um 15.00 Uhr in Erinnerung an die Todesstunde Jesu und zur feierlichen Begrüßung des Neuen Jahres in der Silvesternacht exakt um 24 bzw. 0 Uhr.       

Nicht zuletzt geben die Glocken der Martinskirche Tag für Tag die Zeit an, indem sie zu jeder Viertelstunde schlagen und die vollen Stunden mitzählen. Wen es dann noch wundert, dass sie überdies täglich um 11 Uhr und um 17 Uhr läuten, der sei an Zeiten erinnert, als die Bauern und Winzer, noch nicht mit Armbanduhr und Smartphone ausgestattet, den Tag in Feld und Wingert verbrachten und ihnen auf diese Weise sowohl Mittag als auch Feierabend ins Bewusstsein gerufen wurde. Dem wird dann auch klar, warum das Elf- und Fünf-Uhr-Läuten sonntags ausnahmsweise entfällt. Statt dessen wird samstags um 18 Uhr das Wochenende und sonntags in der Frühe um 7 Uhr der Sonntag eingeläutet. Ein Ruhetag in der Woche darf und soll eben sein.

Und noch eine andere Orientierung jenseits von Zeit und Stunde können sie zum Ausdruck bringen. Was im Frühling 2020 in zahlreichen evangelischen wie katholischen Kirchengemeinden begann als ein Zeichen der Solidarität, dann aber übers Jahr vielerorts wieder eingestellt wurde, wurde hier bis in den Herbst 2021 beibehalten: Abends um halb acht läuteten die Glocken der Martinskirche. Jeden Tag.

Diesmal nicht, um die Uhrzeit anzugeben oder zum Gottesdienst zu rufen, sondern aus dem Mitfühlen und Mitleiden mit denen, die an und unter der Pandemie leiden: Mit den Kranken und Infizierten. Mit den Ärztinnen und Ärzten, Pflegerinnen und Pflegern in den Krankenhäusern und Altenheimen. Mit den Einsamen und Sterbenden. Mit den Trauernden. Mit denen, die beunruhigt sind und Furcht haben vor all dem, was noch kommen mag. Wer es hörte, durfte für einen Moment innehalten, derer gedenken, die aus tiefer Not schreien und die große Not lindern halfen. Durfte ein Licht in der Dunkelheit entzünden und so ein Zeichen setzen gegen Finsternis und Angst – ein Zeichen des Mitfühlens und Mitleidens, der Hoffnung und des Zusammenhalts in schwerer Zeit. Durfte den Herrn loben und nicht vergessen, was er uns Gutes getan hat – trotz aller Sorgen und Ungewissheiten. Und durfte sich dessen bewusst werden und bekennen, dass es außer ihm keinen Grund gibt, auf den zu bauen wäre.

 

(c) Jörg Adrian, im März 2022

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